Harun und der Kadi Abu Jusuf

Ein Märchen aus tausend und einer Nacht.

Djasar brachte einst eine Nacht in Gesellschaft Haruns zu, da sagte ihm dieser: „Ich habe gehört, du hast die Sklavin R. R. gekauft, die ich schon längst besitzen möchte, denn sie ist sehr schön und liebenswürdig, verkaufe sie mir doch wieder!“ Djasar antwortete: „Sie ist mir nicht feil.“ – „So schenke mir sie.“ – „Ich verschenke sie auch nicht.“ – „Wenn du sie mir nicht verkaufst und nicht verschenkst, so lasse ich mich dreimal von Subeida scheiden.“ – „Und wenn ich sie dir schenke, so lasse ich mich dreimal von meiner Gattin scheiden.“ Als sie aber aus ihrer Trunkenheit erwachten, merkten sie, dass sie sich in eine ernste Sache verwickelt hatten, und wussten nicht, wie sich wieder herauswinden. Das sagte Harun: „Das ist ein Fall, den nur Abu Jusuf lösen kann.“ Als darauf Abu Jusuf noch um Mitternacht gerufen wurde, stand er erschrocken auf und sagte: „Gewiss ist etwas Wichtiges im Islam vorgefallene.“ Er bestieg schnell ein Maultier, hieß einen Jungen ihm mit Gerste folgen, um sie dem Tiere vorzulegen, während er sich beim Kalifen aufhalten werde. Als er zum Kalifen kam, stand dieser vor ihm auf und ließ ihn neben sich auf den Diwan sitzen, was sonst niemand, außer ihm, durfte, und sagte ihm: „Ich habe dich wegen einer wichtigen Angelegenheit rufen lassen“, und erzählte ihm, was zwischen ihm und Djasar sich ereignet. Der Kadi sagte: „O Fürst der Gläubigen, das ist die leichteste Sache von der Welt; Djasar soll dir die Hälfte der Sklavin verkaufen und die andere Hälfte schenken, dann seid ihr beide von eurem Eide freigesprochen.“
Der Kalif freute sich sehr mit dieser Lösung und sagte: „Ich liebe die Sklavin so sehr, dass ich sie sogleich hier haben möchte.“ Als die Sklavin erschien, sagte er: „Ich möchte sie gleich heiraten, ich habe keine Geduld zu warten, bis die gesetzliche Frist abgelaufen ist.“ – „Auch dafür weiß ich Rat“, sagte der Kadi; „Lass einen deiner Mamelucken kommen, der noch nicht frei ist.“ Als ein solcher erschien, sagte der Kadi zu dem Kalifen: „Erlaube mir, die Sklavin mit ihm zu verheiraten; er soll aber, sobald die Ehe geschlossen ist, ihr einen Scheidebrief geben; du kannst sie dann sogleich heiraten, weil nach einer geschlossenen, aber nicht vollzogenen Ehe keine Frist vorhanden ist.“ Da der Kalif auf diese Weise gern seine Einwilligung gab, Schloss der Kadi den Ehekontrakt, sagte dann dem Mamelucken: „Du sollst hundert Dinare haben, gib der Sklavin einen Scheidebrief.“ Aber der Mamelucke weigerte sich; man versprach ihm tausend Dinare, er sagte aber: „Hängt die Scheidung vom Kalifen, vom Kadi oder von mir ab? Ich lasse mich, bei Gott nicht scheiden!“ Der Kalif geriet in heftigen Zorn, aber der Kadhi sagte: „Erschrick nicht, du kannst ihre Ehe ungültig machen: Schenke nur den Mamelucken, der doch dein Eigentum ist, der Sklavin, so ist ihre Ehe gelöst.“ Da stand der Kalif auf und sagte: „Ein Mann deinesgleichen verdient zu meiner Zeit Kadi zu sein.“ Er ließ dann Schüsseln voll Gold holen, legte sie vor ihn hin und fragte ihn, ob er etwas bei sich habe, um dieses Gold hineinzutun? Da erinnerte sich der Kadi des Gerstensacks, ließ ihn sich bringen und trug ihn mit Gold gefüllt fort. Am folgenden Morgen sagte er zu seinen Schülern: „Wer nichts gelernt hat, der lerne etwas, seht einmal, wie viel Gold ich für die Lösung von drei Fragen erhalten habe.“
Und du, gebildeter Leser! denke über diese anmutige Geschichte nach, du findest manches Schöne darin; du siehst, was sich der Wesir Djasar gegen den Kalifen erlauben durfte, wie gelehrt der Kalif, und wie noch gelehrter sein Kadi war. Gottes Erbarmen sei mit ihnen!


Aus: „Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen“ von Dr. Gustav Weil; aus dem Urtext übersetzte Ausgabe von 1865.